Riesen-Eisberge auf Grund gelaufen
«Wenn Eisberge auf Grund laufen, hinterlassen sie auf dem Meeresboden Furchen, die je nach Ausdehnung und Lage über lange Zeiträume bestehen bleiben können», erklärt Jan Erik Arndt, AWI-Bathymetriker und Erstautor des Papers.
Genau solche Spuren hat er gemeinsam mit drei AWI-Kollegen auf dem Hovgaard Rücken entdeckt. Der Hovgaard Rücken ist ein Plateau in der arktischen Tiefsee, gut 400 Kilometer vor Grönlands Ostküste gelegen. In einer Tiefe von 1200 Metern erstrecken sich hier die tiefsten Kratzspuren von Eisbergen, die bisher in der Arktis gefunden wurden. Die Furchen sind bis zu vier Kilometer lang und 15 Meter tief. «Solche Spuren erlauben uns einen Blick in die Vergangenheit. Dank dieser Eisbergkratzer wissen wir jetzt, dass über den Hovgaard Rücken früher einige sehr große und auch viele kleinere Eisberge getrieben sind», sagt der Wissenschaftler.
Die Entdeckung der Kratzer am Hovgaard Rücken war ein Glücksfall und keineswegs das Ergebnis einer gezielten Suchaktion. Jan Erik Arndt und seine Kollegen stiessen in bathymetrischen Daten aus dem Jahr 1990 auf die Kratzer. Die Daten hatte das Forschungsschiff Polarstern für eine Kartierung der Framstrasse gesammelt. «Als wir uns die Daten aufs Neue detailliert angeschaut haben, sind uns die Furchen aufgefallen. Im Hinblick auf die Tiefe war uns dann schnell klar, dass wir da etwas Interessantes gefunden hatten», sagt Jan Erik Arndt.
Die Wissenschaftler arbeiten heute mit besserer Computer-Hard- und Software als noch in den 1990er Jahren. Die neue Technik erlaubt einen genaueren Blick auf die alten Daten. Deshalb tauchten die Furchen erst jetzt, 24 Jahre nach dem Sammeln der Daten, auf den Monitoren der Wissenschaftler auf.
Wann die Eisberge über den Hovgaard Rücken geschrappt sind, können die Wissenschaftler allerdings nur grob eingrenzen: Klar ist, dass es in den vergangenen 800 000 Jahren passiert sein muss. Weil der Meeresspiegel in den Eiszeiten gut 120 Meter tiefer lag als heute, reichten die Eisberge demnach mindestens 1080 Meter unter die Wasseroberfläche. Da Eisberge in der Regel zu etwa einem Zehntel aus dem Wasser herausragen, schätzen die AWI-Wissenschaftler die Grösse des Eisberges auf grobe 1200 Meter – das ist drei Mal höher als der Berliner Fernsehturm. «Um solche Riesen-Eisberge zu produzieren, war der Eisschildrand im Arktischen Ozean somit stellenweise mindestens 1200 Meter dick», so Jan Erik Arndt.
Heute suchen Wissenschaftler vergeblich nach solchen Mega-Eisbergen. «Die grössten Eisberge finden wir derzeit in der Antarktis. Sie reichen allerdings maximal noch bis zu 700 Meter unter die Wasseroberfläche», erklärt der Bathymetriker. Ein Rätsel bleibt zudem die Geburtsstätte der Riesen-Eisberge, welche die Kratzer am Hovgaard Rücken hinterlassen haben. Die AWI-Wissenschaftler halten zwei Gebiete vor der Nordküste Russlands für die wahrscheinlichsten Orte.
Die Forscher interessieren sich allerdings nicht nur wegen der Eisberggrösse für die Kratzer: Die Spuren befeuern eine alte Fachdiskussion um die Frage, auf welche Weise in der Vergangenheit Süsswasser aus der Arktis in den Atlantischen Ozean transportiert wurde. Bisher nahmen einige Wissenschaftler an, dass vor allem dickes Meereis für die Süsswasserausfuhr aus der Arktis verantwortlich war. Die neu entdeckten Kratzspuren allerdings untermauern eine andere Hypothese. Demnach waren grosse Eisberge von Norden nach Süden durch die Framstrasse getrieben und hatten grosse Mengen gefrorenes Süsswasser Richtung Süden in den Nordatlantik verfrachtet.
Zahlreiche Studien machen gerade die erhöhten Süsswassereinträge für ein Abstellen der nordatlantischen Tiefenwasserbildung am Ende der letzten Eiszeit verantwortlich. Als Folge versiegte der Golfstrom, was zu einer drastischen Abkühlung in Europa führte. Da die Strömung im Atlantik ein wichtiger Motor für den Antrieb des weltumspannenden Zirkulationssystems ist, waren die Auswirkungen global spürbar. «Dass Eisberge in dieser Grössenordnung aus der Arktis getrieben sind, spricht eindeutig dafür, dass Eisberge eine gravierendere Rolle für die Süsswasserzufuhr hatten, als bisher angenommen", so Jan Erik Arndt.
Quelle, AWI, Bremerhaven