Müllhalde Arktischer Ozean
Für die Studie untersuchte Dr. Melanie Bergmann rund 2100 Fotoaufnahmen vom Meeresboden am HAUSGARTEN, dem Tiefsee-Observatorium des Alfred-Wegener-Institutes in der östlichen Framstrasse. So heisst der Seeweg zwischen Grönland und der norwegischen Insel Spitzbergen. «Den Anstoss für diese Studie gab ein Bauchgefühl. Bei der Durchsicht unserer Expeditionsaufnahmen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass auf den Fotos aus dem Jahr 2011 öfter Plastiktüten und andere Müllreste auf dem Meeresboden zu sehen waren als auf Bildern früherer Jahre. Aus diesem Grund entschloss ich mich, alle Fotos aus den Jahren 2002, 2004, 2007 und 2008 systematisch nach Müll zu untersuchen», erzählt Melanie Bergmann von der HGF-MPG Brückengruppe für Tiefseeökologie und Technologie.
Die Tiefsee-Forscher am Alfred-Wegener-Institut setzen bei Polarstern-Expeditionen zum HAUSGARTEN regelmässig ihr ferngesteuertes Kamera-System OFOS (Ocean Floor Observation System) ein. An der zentralen HAUSGARTEN Station schwebt es in einer Wassertiefe von 2500 Metern etwa 1,5 Meter über dem Meeresgrund und macht etwa alle 30 Sekunden eine Aufnahme vom Boden unter sich. Seine Aufnahmen dienen den Tiefseebiologen vor allem dazu, Veränderungen in der Artenvielfalt von grösseren Tiefseebewohnern wie Seegurken, Seelilien, Schwämmen, Fischen und Garnelen zu dokumentieren. Für Melanie Bergmann aber lieferten sie auch Belege für die zunehmende Verschmutzung der Tiefsee: «Bei den Aufnahmen aus dem Jahr 2002 finden sich auf rund einem Prozent der Fotos Müllreste, in erster Linie Plastik. Bei den Bildern aus dem Jahr 2011 machten wir dieselbe Entdeckung auf rund zwei Prozent der Fotos. Die Müllmenge am Meeresgrund hat sich also verdoppelt», sagt die Wissenschaftlerin.
Das Ergebnis «zwei Prozent» mag im ersten Moment wenig Aufsehen erregen. Wie gross das wahre Ausmass der Verschmutzung in der arktischen Tiefsee jedoch ist, zeigt ein Vergleich: «Der Arktische Ozean und vor allem seine Tiefseegebiete galten lange Zeit als entlegene, nahezu unberührte Regionen der Erde. Unsere Ergebnisse belegen nun aber, dass zumindest rund um unser Tiefseeobservatorium inzwischen genauso viel Plastikmüll auf den Grund des Ozeans gesunken ist, wie zum Beispiel in einem Meeresgraben nicht weit entfernt von der portugiesischen Metropole Lissabon», erklärt Melanie Bergmann. Und dabei sei noch zu bedenken, dass sich in Tiefseegräben nach aktuellem Forschungsstand mehr Plastikabfall ansammle als an Hängen wie jenem, an dem sich der HAUSGARTEN befindet.
Woher die Müllstücke am HAUSGARTEN stammen, kann Melanie Bergmann mithilfe der Fotos nicht bestimmen. Sie vermutet jedoch, dass der Rückgang des arktischen Meereises in dieser Frage eine entscheidende Rolle spielt. «Die arktische Meereisdecke wirkt normalerweise wie eine Barriere. Sie verhindert, dass Wind Müll vom Land aus in das Meer weht und versperrt den meisten Schiffen den Weg. Seitdem die Eisdecke jedoch regelmässig schrumpft und dünner wird, hat der Schiffsverkehr stark zugenommen. Wir beobachten inzwischen dreimal mehr Privatjachten und bis zu 36 Mal mehr Fischereischiffe in dieser Region als noch vor dem Jahr 2007», erzählte Melanie Bergmann. Müllzählungen an Stränden Spitzbergens hätten zudem ergeben, dass der dort angespülte Abfall hauptsächlich von Hochseefischern stamme.
Die Leidtragenden dieser zunehmenden Verschmutzung sind vor allem die Tiefsee-Bewohner. «Fast 70 Prozent der von uns entdeckten Plastikreste waren auf irgendeine Weise mit Tiefsee-Organismen in Kontakt gekommen. Wir fanden zum Beispiel häufig Plastiktüten, die sich in Schwämmen verfangen hatten, ein Kartonstück, das von Seelilien bewachsen war, sowie eine Flasche, auf der sich ebenfalls eine Seelilie angesiedelt hatte», erzählt Melanie Bergmann.
Kommen Schwämme oder andere Suspensionsfresser mit Plastik in Berührung, zieht dies vermutlich Verletzungen ihrer Körperoberfläche nach sich. Die Folge: Die Bodenbewohner können weniger Nahrungspartikel aufnehmen, wachsen deshalb langsamer und vermehren sich vermutlich seltener. Auch die Atmung könnte behindert werden. Zudem enthält Plastik auch immer chemische Zusatzstoffe, die auf ganz unterschiedliche Weise toxisch wirken. «Aus anderen Untersuchungen weiss man, dass Plastiktüten, die auf den Meeresboden sinken, die Gas-Austauschprozesse an dieser Stelle verändern können. Der Sediment-Boden darunter wird dann zur sauerstoffarmen Zone, in der nur wenige Organismen überleben», sagt Melanie Bergmann. Andere Lebewesen wiederum nutzten den Müll als Hartsubstrat und Fundament. «Auf diese Weise können sich Arten ansiedeln, die vorher kaum geeignete Lebensbedingungen vorgefunden hätten. Das heisst: Der Abfall könnte langfristig die Artenzusammensetzung in der Tiefsee verändern», so die Forscherin.
Angesichts der weitreichenden Klimaveränderungen in der Arktis wollen Melanie Bergmann und Kollegen ihre Forschungsprojekte zum Thema «Müll im Meer» ausbauen: «Unsere bisherigen Ergebnisse aus der Framstrasse sind lediglich eine Momentaufnahme und spiegeln jene Funde wieder, die wir mit blossem Auge erkennen konnten», erklärt die Wissenschaftlerin. In den Fokus rückt derzeit zum Beispiel die Frage nach der Belastung der Tiefsee durch sogenannte Mikroplastik-Partikel. «Auf der vergangenen Arktis-Expedition des Forschungsschiffes POLARSTERN haben wir erstmals Proben genommen, die wir zusammen mit AWI-Kollegen aus Helgoland auf diese winzigen Plastikteilchen untersuchen werden», sagt Melanie Bergmann. Auf dieser Expedition haben sie und belgische Säugetier- und Vogelbeobachter ausserdem 32 Müllstücke gezählt, die an der Wasseroberfläche trieben. Demzufolge ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Forscher weiteren Müll in der Tiefsee finden werden, gross. Melanie Bergmann: «Plastikteile, die in die Tiefsee hinabsinken, zerfallen nicht so schnell in Mikropartikel wie es zum Beispiel am Nordseestrand der Fall ist. Dazu fehlen in 2500 Metern Tiefe sowohl das Sonnenlicht als auch die stärkere Wasserbewegung. Stattdessen ist es dort unten dunkel und kalt. Unter diesen Bedingungen kann Plastikabfall wahrscheinlich Jahrhunderte überdauern.»
Quelle: AWI Bremerhaven