Schnelle Veränderungen des arktischen Ökosystems
Tierische Tiefseebewohner wie Seegurken und Haarsterne fressen die auf den Meeresgrund abgesunkenen Algen. Bakterien setzen um, was übrig bleibt und zehren dabei den Sauerstoff im Meeresboden auf. Diese kurzfristige Reaktion des Tiefseeökosystems auf Änderungen an der Wasseroberfläche hat ein multidisziplinäres Forscherteam um Prof. Dr. Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut jetzt in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht.
Mehr als zwei Monate lang waren Wissenschaftler und Techniker aus zwölf Nationen im Spätsommer 2012 mit dem Forschungsschiff «Polarstern» in der Zentralarktis unterwegs. Im hohen Norden setzten sie eine Vielzahl modernster Forschungsgeräte und -methoden ein. Die übergeordnete Frage: Wie verändert sich die Arktis durch die globale Erwärmung und wie reagiert das Ökosystem mit seinen Bewohnern darauf? «Viel schneller als bisher vermutet!» ist eine erste Antwort von Prof. Dr. Antje Boetius, die die Helmholtz-Max-Planck-Brückengruppe für Tiefsee-Ökologie und -Technologie leitet. «Der Meeresgrund in mehr als 4000 Metern Tiefe war übersät von Algenklumpen, die Seegurken und Haarsterne angelockt haben», so die Mikrobiologin.
Die Algenklumpen, mit einem Durchmesser von einem bis 50 Zentimetern, bedeckten bis zu zehn Prozent des Meeresbodens. Aufspüren konnten die Forscher sie mit einem Ozeanboden-Beobachtungssystem namens OFOS (Ocean Floor Observation System). Dr. Frank Wenzhöfer aus der Helmholtz-Max-Planck-Brückengruppe konnte erstmals mit Mikrosensoren in der eisbedeckten Arktis die Sauerstoffkonzentration direkt am Tiefseeboden messen, dort, wo die Algen lagen. Auch unter dem Algenbelag tobte das Leben: Bakterien hatten angefangen, die Algen zu zersetzen. Deutlich wurde dies durch einen stark verringerten Sauerstoffgehalt im Sediment unter den Algen. Der Meeresgrund in benachbarten algenfreien Bereichen war dagegen bis zu einer Tiefe von 80 Zentimetern durchlüftet und enthielt kaum pflanzliche Überreste. Dort, wo die Algen abgebaut wurden, schrumpfte die belüftete Zone aber in kurzer Zeit auf wenige Millimeter.
Doch woher stammen die grossen Mengen Algen in der Tiefsee? Pflanzen können dort nicht wachsen, weil es kein Licht gibt. Fündig wurden die Forscher an der Unterseite der schmelzenden Eisschollen: Überall unter dem Meereis fanden sie Reste des Eisalgen-Aufwuchses. «Man weiss seit langem, dass Kieselalgen der Art Melosira arctica unter dem Eis lange Ketten bilden können. Allerdings war dies in solchem Umfang bisher nur für Küstenregionen und altes, dickes Meereis beschrieben», so Boetius. Bereits in der Expeditionsplanung vor drei Jahren hatten die Forscher die Hypothese aufgestellt, dass diese Eisalgen unter den heutigen Bedingungen auch unter dem Eis der Zentralarktis schneller wachsen könnten. Und die jetzt im Fachmagazin «Science» veröffentlichten Beobachtungen stützen ihre Hypothese: Die Eisalgen waren mit 45 Prozent sogar für fast die Hälfte der Primärproduktion im Zentralarktischen Becken verantwortlich. Der Rest der Primärproduktion geht auf andere Kieselalgen (Diatomeen) und Kleinstalgen (Nanoplankton) zurück, die in den oberen Schichten der Wassersäule leben.
Absterbendes Phytoplankton sinkt nur sehr langsam durch die Wassersäule und wird dort zum Grossteil gefressen. Die langen, von Melosira arctica gebildeten Algenketten verklumpen hingegen und sinken schnell zum Meeresboden. So exportierten sie im Untersuchungsjahr 2012 mehr als 85 Prozent des durch Primärproduktion gebundenen Kohlenstoffs von der Wasseroberfläche in die Tiefsee. Die Forscher vermuten, dass die Algen tatsächlich im selben Jahr gewachsen waren, denn sie fanden nur noch einjähriges Eis in der zentralen Arktis vor, und die Algen aus den Mägen der Seegurken konnten im Labor noch Photosynthese betreiben. Auch der gute Ernährungszustand der Seegurken belegte die hohe Nahrungsverfügbarkeit: Die russische Zoologin Dr. Antonina Rogacheva vom P.P. Shirshov Institute of Oceanology fand die Tiere grösser als bisher bekannt und mit weit entwickelten Fortpflanzungsorganen – ein Hinweis darauf, dass sie seit etwa zwei Monaten reichlich gefressen hatten.
Warum Eisalgen bei den aktuellen Bedingungen so schnell unter dem arktischen Meereis gedeihen können, aber dann durch die Eisschmelze ihren Lebensraum verlieren, können die Meereisphysiker vom Alfred-Wegener-Institut erklären. Sie bestimmten die Eisdicke mit einer vom Hubschrauber geschleppten elektromagnetischen Sonde und Eisbohrungen. Zusätzlich setzten sie einen Unterwasserroboter (ROV) ein, um das Eis von unten zu betrachten und zu messen, wie viel Licht hindurch dringt. Hierzu erklärt AWI-Meereisphysiker Dr. Marcel Nicolaus: «Auch zum Ende des Sommers haben wir die Algen noch direkt unter dem Meereis gefunden und dank unserer ROV Messungen konnten wir auch deren Menge abschätzen. Vermehrt auftretende Schmelztümpel lassen mehr Licht durch das Eis dringen und erlauben so ein schnelleres Algenwachstum.» Durch das dünnere und wärmere Meereis schmelzen die Eisalgen dann aber auch schneller aus dem Eis aus und sinken ab.
«Wir konnten erstmals zeigen, dass die Erwärmung und die damit verbundenen physikalischen Veränderungen in der Arktis schnelle Reaktionen im gesamten Ökosystem bis in die Tiefsee hervorrufen», resümiert Erstautorin Boetius. Die Tiefsee galt bisher als träges System, das erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung von der globalen Erwärmung betroffen sei. Dass mikrobielle Abbauprozesse am abgesunkenen Material aber auch in der Tiefsee innerhalb eines Jahres anoxische Flecken entstehen lassen, alarmiert die Forscherin: «Wir wissen noch nicht, ob wir ein einmaliges Phänomen beobachtet haben, oder sich das in den nächsten Jahren wiederholen wird.» Aktuelle Vorhersagen gehen davon aus, dass ein eisfreier Sommer in der Arktis innerhalb der nächsten Jahrzehnte erreicht werden könnte. Boetius und Ihr Team warnen: «Wir verstehen die Funktion des arktischen Ökosystems mit seiner Biodiversität und Produktivität immer noch zu wenig, um abschätzen zu können, wie weitreichend die Veränderungen durch den schnellen Eisrückgang sind.»
Quelle: AWI, Bremerhaven