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Lebensraum Schelfeis: Neue Arten erstaunen Forscher

Geschrieben von Heiner Kubny am . Veröffentlicht in Forschung & Umwelt.

Der grösste Teil der Tiere der Antarktis sind aquatisch und leben mit dem Eis. Forschungsexpeditionen finden immer wieder neue Arten in diesem extremen Lebensraum. Doch was das Team des ANDRILL (Antarctic Geological Drilling) bei Bohrungen im Schelfeis des Rossmeeres entdeckt haben, erstaunt die Biologen in höchstem Mass: Tausende und abertausende von kleinen Seeanemonen, eingegraben in der Unterseite des Eisschelfs, ihre Tentakel ins eiskalte Wasser streckend wie Blumen an einer Decke.

Seeanemonen (Edwardsiella andrillae) hängen in beinahe 300 Meter Tiefe am Eis des Rossmeerschelfes wie kleine Lampen. © Frank Rack, University of Nebraska - Lincoln
Seeanemonen (Edwardsiella andrillae) hängen in beinahe 300 Meter Tiefe am Eis des Rossmeerschelfes wie kleine Lampen. © Frank Rack, University of Nebraska - Lincoln

«Das Bild hat mich völlig umgehauen», sagt Marymegan Daly von der Ohio State Universität, die sich einige der Individuen, die vom ANDRILL Team in Antarktika beschafft worden waren, untersucht hatte. Die neue Art, die im Dezember 2010 entdeckt worden war, ist nun offiziell in der Fachzeitschrift PLoS One bekanntgemacht worden. Obwohl andere Anemonenarten in der Antarktis früher schon gefunden worden sind, ist diese Art die erste, die im Eis lebt. Sie leben auch kopfüber und hängen so an der Unterseite des Eises, was im Gegensatz zu den anderen Anemonen steht, die alle aufrecht stehen und im oder auf dem Meeresboden leben.

ANDRILL Illustration Anemonen

Die weissen Anemonen sind Edwardsiella andrillae genannt worden, zu Ehren des ANDRILL-Programms. Die Entdeckung war «ein absoluter Zufallsfund», sagt Frank Rack, Geschäftsführer des ANDRILL Science Management Office an der Universität von Nebraska-Lincoln (UNL) und ausserordentlicher Professor für Erd- und Atmosphärenwissenschaften an der UNL. «Als wir unter dem Eisschelf nach oben schauten, waren sie einfach da», erklärt er. Die Wissenschaftler nutzten einen mit zwei Kameras ausgestatteten Roboter (eine oben und eine auf der Seite) und hatten sie durch ein Loch, das in das 270 Meter dicke Eis gebohrt worden war, hinuntergelassen. Die ursprüngliche Mission, die von der amerikanischen NSF gefördert wird, wollte mehr über die Ozeanströmungen unter dem Eisschelf erfahren und Umweltdaten für das Verhalten der ANDRILL Bohrkette sammeln, erklärt Rack weiter. Man erwartete nicht, Lebewesen im Eis zu finden und vor allem nicht, neue Arten zu entdecken. Die Entdeckung deutet darauf hin, dass auch nach 50 Jahren aktiver Forschung immer noch neue Dinge erforscht werden können, meint Scott Borg, der Leiter der Antarktisforschungssektion in der NSF-Abteilung für Polare Programme.

Die Seeanemone ist nur sehr klein, weniger als 2.5 cm lang. © Frank Rack, University of Nebraska - Lincoln
Die Seeanemone ist nur sehr klein, weniger als 2.5 cm lang. © Frank Rack, University of Nebraska - Lincoln

«Doch wie sich die Anemonen in das Eis eingraben und dort überleben, während die Oberfläche aktiv abschmilzt, bleibt ein mysteriöses Geheimnis», erklärt Borg. «Das zeigt klar, dass es noch vieles gibt, das wir über die Antarktis lernen müssen und wie sich das Leben hier angepasst hat».

Rack, der der amerikanische Chefwissenschaftler für die Umweltstudien im Rahmen des internationalen ANDRILL Coulman Projektes ist, musste die Bohrstelle kurz vor der Entdeckung verlassen. Er hörte über den Funkverkehr, das das Roboterteam, die Ingenieure Bob Zook, Maul Mahecek und Dustin Carroll, aufgeregt zu rufen begannen, als sie die Anemonen im Licht der Scheinwerfer aufglühen sahen. «Sie hatten ein komplett neues Ökosystem entdeckt, das vor ihnen noch nie ein Mensch erblickt hatte», erzählt Rack. «Was als technischer Test des ferngesteuerten Fahrzeugs durch das dicke Eis begann, verwandelte sich in eine bedeutende und aufregende biologische Entdeckung». Zusätzlich zu den Anemonen sahen die Wissenschaftler auch Fische, die regelmässig kopfüber schwammen und das Eisschelf in ihrer Unterwasserwelt als Boden nutzten. Sie entdeckten auch Borstenwürmer, Flohkrebse und ein Tier, das sie als «Frühlingsrolle» bezeichneten: ein 10 cm langer, 2.5 cm dicker, frei flotierender Zylinder, der mit mehreren Anhängen an beiden Enden seines Körpers zu schwimmen schien. Man konnte sehen, wie er zwischen den Anemonen trieb und sich manchmal an ihnen festhielt.

Die Anemonen selbst sind weniger als 2.5 cm lang in zusammengezogenen Zustand, konnten aber drei- bis viermal so lange werden im entspannten Zustand, erklärt Daly. Jedes Tier besitzt 20 – 24 Fangarme in zwei Ringen. Nachdem die Tiere mit heissem Wasser betäubt wurden, benutzte das Team ein improvisiertes Sauggerät, um sie aus ihren Löchern zu holen. Danach wurden sie zur McMurdo Station gebracht für weitere Untersuchungen. Weil das Team nicht biologische Proben sammeln sollte, waren sie auch nicht dafür ausgerüstet, die Tiere für DNA/RNA-Untersuchungen vorzubereiten, meint Rack weiter. Sie wurden in Ethanol gelegt an der Bohrstelle und danach in der Station in Formalin konserviert.

Die drei Entdecker mit dem Roboter, den sie dazu benutzten. © Frank Rack, University of Nebraska - Lincoln
Die drei Entdecker mit dem Roboter, den sie dazu benutzten. © Frank Rack, University of Nebraska - Lincoln

Viele geheimnisse bleiben noch. Obwohl einige Anemonenarten sich in den Sand eingraben können mit Hilfe ihrer Tentakel oder durch das Aufblasen und Verkleinern ihrer Körperbasis, scheinen diese Strategien nicht für das Eis machbar zu sein. Es ist auch unklar, wie die Tiere die eisigen Bedingungen und wie sie sich fortpflanzen. Es gibt keine Hinweise auf ihre Nahrung, aber es ist wahrscheinlich, dass sie sich von Plankton, das unter dem Eis vorbeizieht, ernähren, erklärt Daly.

Frank Rack meint, dass ein Gesuch vorbereitet wird, diesen ungewöhnlichen Lebensraum genauer untersuchen zu können, auch mit Hilfe eines anderen Roboters. Dieser soll in grössere Tiefen und weiter vom Bohrloch weg vordringen können. Die NASA liefert finanzielle Hilfe für die Entwicklung eines solchen Roboters, denn die Entdeckung in der Antarktis könnte Auswirkungen für die Suche nach Leben auf dem Jupiter-Mond Europa, der auch von Eis bedeckt ist, haben. Rack sagt zum Schluss, dass die Forscher hoffen nächstes Jahr in die Antarktis zurückzukehren, um mehr über die Anemonen unter dem Eis zu erfahren.

McMurdo Andrill

Quelle: University of Nebraska-Lincoln, www.newsroom.unl.edu